ZEHN - Zentrum für Ernährung und Hauswirtschaft Niedersachsen

Lebensmittel retten, Zukunft gestalten: Die Vision hinter foodsharing

Seit 2012 setzt sich die Initiative foodsharing gegen Lebensmittelverschwendung ein und hat hierzu eine Bewegung ins Leben gerufen, die mittlerweile Tausende von Freiwilligen vereint. Im folgenden Interview gewährt uns Frank Bowinkelmann (Mitbegründer und foodsharing-Koordinator) Einblicke in die Anfänge und Arbeit von foodsharing, die Herausforderungen auf dem Weg und die Vision für eine nachhaltigere Zukunft.

foodsharing Gründer Frank Bowinkelmann
© Frank Bowinkelmann

Was hat euch dazu inspiriert, foodsharing zu gründen? Gab es einen bestimmten Moment oder eine spezifische Erfahrung, die den Anstoß dazu gab?

Ohne den Dokumentarfilm Taste the Waste von Valentin Thurn gäbe es foodsharing nicht. Der Film von 2011 berichtete zum ersten Mal über den Umgang der Industriegesellschaften mit Lebensmitteln und zeigte die globalen Ausmaße der Lebensmittelverschwendung: Ein Drittel bis die Hälfte aller erzeugten Lebensmittel landen im Müll bevor sie überhaupt den Teller erreichen. Diese Verschwendung ist angesichts der Tatsache, dass fast 1 Milliarde Menschen an Hunger leiden für uns nicht hinnehmbar, ebenso wenig wie die damit verbundene Umweltbelastung und Ressourcenverschwendung.

Da kam die Idee auf, eine Webseite einzurichten, auf der Menschen ihre überschüssigen Lebensmittel anderen zur Verfügung stellen, indem sie diese in virtuellen Essenskörben anbieten können. Diese ging 2012 online. Von Anfang an bekam die Plattform foodsharing.de ein großes mediales Echo. Da foodsharing eine Umweltbewegung ist und bei uns jede*r Lebensmittel erhalten kann, haben wir Kontakt zur Bundestafel aufgenommen, um eine Kooperationsvereinbarung zu beschließen.

 

Wie funktioniert das Konzept von foodsharing genau, und welche Rolle spielt die Gemeinschaft dabei?

foodsharing bringt Menschen unterschiedlichster Hintergründe zusammen und regt zum Mitmachen, Mitdenken an. Dabei geht das Engagement über das reine Lebensmittelretten und -teilen überschüssiger Lebensmittel hinaus. Zu den Themen Nachhaltigkeit, gesunde Ernährung und Lebensmittelverschwendung veranstalten wir dezentrale Workshops, bieten gemeinschaftliche Kochevents sowie Diskussionsrunden an, halten Vorträge und Lesungen.

Gemeinschaft spielt bei foodsharing eine grundlegende Rolle. Bei uns kommen Menschen zusammen, die sich im normalen Leben so vielleicht gar nicht begegnen würden, weil ein jede*r sich häufig nur in der eigenen sozialen „Blase“ bewegt. Bei uns retten Rentner, Studenten, Alleinerziehende wie auch gutverdienende Angestellte.

 

Welche Herausforderungen habt ihr bei der Gründung und beim Wachstum erlebt? Wie habt ihr diese überwunden?

Bereits am ersten Tag, an dem unsere Webseite online ging, brach der Server aufgrund der vielen Anmeldungen zusammen. Bis zum heutigen Tag haben sich auf unserer Webseite über 629.000 Personen angemeldet.

Durch den schnellen Zuwachs an engagierten Menschen hatten wir lange Zeit eine organisatorische Überbelastung, da bis heute die meiste Arbeit rein ehrenamtlich getätigt wird. Viele Freiwillige haben sich im selbst gegründeten Orga-Team zusammengefunden und eine Herkulesaufgabe bewältigt: Es mussten zum Beispiel Regeln aufgestellt werden, wie potentielle Kooperationsbetriebe angesprochen werden, wie das Retten und Verteilen von Lebensmitteln durch Foodsaver*innen abläuft. Auch wie die vielen Freiwilligen eingearbeitet werden, insbesondere welche Hygieneregeln einzuhalten sind. Auch das Aufstellen von Fairteilern gestaltet sich bis heute nicht einfach. Dabei handelt es sich um öffentlich zugängliche Kühlschränke und/oder Regale, in die Menschen unter bestimmten Regeln Lebensmittel hineinstellen und auch herausnehmen können.

Zwar wurden wir vom Bundeslandwirtschaftsministerium 2017 für diese innovative Idee mit dem Preis „Zu gut für die Tonne“ ausgezeichnet, aber die Umsetzung gestaltet sich bis heute schwierig, da die Gesetzeslage diese Form der Lebensmittelverteilung nicht kennt. Dadurch wird von kommunalen Lebensmittelüberwachungsbehörden die rechtliche Lage unterschiedlich eingeschätzt und ausgelegt.

 

Wie hat sich foodsharing seit seiner Gründung entwickelt? Gibt es Meilensteine oder Momente, auf die ihr besonders stolz seid?

foodsharing ist heute eine etablierte Umwelt- und Bildungsorganisation. Seit der Gründung haben wir ca. 170.000 Tonnen Lebensmittel gerettet. Wir kooperieren mit über 16.000 Betrieben, die an uns nicht mehr verkaufsfähige, aber durchaus noch genießbare Lebensmittel abgeben. Wir haben dazu beigetragen, dass Lebensmittel heute mehr wertgeschätzt werden. Das öffentliche Problembewusstsein zum Thema ist deutlich gestiegen.

Ein weiterer Meilenstein Richtung Nachhaltigkeit sind „foodsharing-Städte“. Der Gedanke dabei ist, lokale Veränderungen herbeizuführen, die zur Sensibilisierung und zu einem Umdenken in der Bevölkerung führen. Die Stadtverwaltung unterschreibt dabei eine Motivationserklärung als Symbol der Partnerschaft zwischen foodsharing und der öffentlichen Hand. 2018 ist uns zudem gelungen eine foodsharing-Akademie mit unterschiedlichen Bildungsangeboten ins Leben zu rufen.

 

Welche Rolle spielen Freiwillige und Partnerorganisationen bei der Arbeit von foodsharing, und wie können sich Interessierte daran beteiligen?

Bei foodsharing kann jede*r mitmachen, der volljährig ist und einen Zugang zum Internet hat.

Engagieren kann man sich auf unterschiedliche Art und Weise: Wer sich bei uns (foodsharing.de) anmeldet, kann zum Beispiel virtuelle Essenskörbe einstellen. Wer im Namen von foodsharing aktiv Lebensmittel bei Kooperationsbetrieben retten möchte, muss außerdem ein Quiz bestehen. Mit dem Quiz wollen wir sicherstellen, dass Bewerber*innen sich mit der Organisationsstruktur von foodsharing und den Hygieneregeln vertraut gemacht haben. Nach bestandenem Quiz muss eine bestimmte Anzahl von Einführungsabholungen gemeinsam absolviert werden. Danach kann man sich auf unserer Webseite in seinem Bezirk bei lebensmittelspendenden Betrieben eintragen, bei denen man retten möchte. Jede*r entscheidet dann selbst, wie die geretteten Lebensmittel verteilt werden: an Bekannte, Nachbarn oder Fairteiler.

 

Welche Pläne habt ihr für die Zukunft? Gibt es neue Projekte oder Initiativen, auf die wir gespannt sein können?

Die foodsharing-Akademie wird noch in diesem Jahr ein großes Projekt starten: „Kochen kann jede:r - vielfältig, gesund, bezahlbar“, ein vom Bundesumweltamt gefördertes Projekt. Es bietet verschiedenen von Armut und Benachteiligung betroffenen Zielgruppen an, in Workshops gemeinsam zu kochen und zu essen. Ziel ist, den Teilnehmenden die Fähigkeit zu vermitteln, mit einfachen Zutaten erschwingliche, schmackhafte, nachhaltige und gesundheitsfördernde Mahlzeiten zuzubereiten.

Zukünftig wollen wir uns mehr um die Internationalisierung von foodsharing bemühen. In vielen europäischen Ländern gibt es bereits foodsharing, aber wir wollen unsere Ideen auch außereuropäisch verbreiten.

 

Was muss aus Eurer Sicht noch getan werden, um das Ziel der Halbierung der Lebensmittelverschwendung bis 2030 zu erreichen? Welche Rolle kann foodsharing dabei spielen?

Wir halten die bislang ergriffenen Maßnahmen für unzureichend. Deshalb stellt foodsharing konkrete politische Forderungen auf Landes- und Bundesebene: Wir fordern einen sofortigen gesetzlichen Wegwerf-Stopp für Supermärkte, wie dies bereits in anderen EU-Ländern erfolgreich umgesetzt wurde. Wir wollen Transparenz und klare Minderungsziele über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Denn zurzeit gilt noch: Lebensmittel, die auf dem Acker liegen bleiben und nicht geerntet werden, gelten nicht als Lebensmittel und bleiben deshalb bei der Mengenerfassung außen vor.